Im Yoga ist immer wieder von Aufrichtung die Rede. Was genau bedeutet das eigentlich? Früher dachte ich, es gehe schlicht darum, gerade zu stehen. Heute weiß ich, dass hinter einer bewussten Körperaufrichtung viel mehr steckt.
Den Körper aufrichten heißt
- den Rumpf zu stabilisieren,
- die Wirbelsäule zu strecken und
- Armen, Beinen und Kopf freie Beweglichkeit zu ermöglichen.
Ein sinnvoll aufgerichteter Körper gleicht einem Baum: Nahezu unumstößlich verwurzelt und doch flexibel genug, um mit dem Wind zu tanzen.
Viele Menschen versuchen sich aufzurichten, indem sie ihre Schultern ruckartig zurückziehen. Eine Angewohnheit, die ich häufig bei meinen Yogaschülern beobachte: Sobald sie sich ihrer buckligen Haltung bewusst werden, reißen sie ihre Schultern nach hinten. Zack. Stolz blicken sie mich an und meinen, sie hätten nun eine wunderbar gerade Körperhaltung eingenommen. Vielleicht machst du das beim Lesen dieser Zeilen unbewusst auch 🙂
Das Zurückziehen der Schultern hat jedoch mit Aufrichtung nicht viel zu tun. Der Rücken mag zwar irgendwie „gerader“ erscheinen. In Wahrheit sind indes nur die Schulterblätter zur Wirbelsäule gezogen. Sonst ist nichts passiert.
Aufrichtung ist die bewusste Aktivierung der Muskelketten von unten nach oben unter Zuhilfenahme der Atmung.
Am Besten lässt sich dieses Prinzip der Aufrichtung in tadasana, dem aufrechten Stand, üben.
- Stelle dich barfuß auf festen Boden und schließe die Augen. Spüre für einen Moment, wie du stehst. Verändere zunächst nichts.
Erkunde deinen Stand mit deinem Spürbewusstsein von den Füßen bis zum Schädel.
- Beginne nach einigen Atemzügen damit, deine Wirbelsäule aufzurichten. Die Aufrichtung beginnt bei den Füßen.
- Aktiviere deine Fußmuskeln, in dem du die Zehen anhebst, weit auseinander spreizt und bewusst wieder auf dem Boden niederlässt. Verteile dein Gewicht gleichmäßig auf den Fußsohlen. Verankere dafür deine Großzehenballen und die Außenkanten deiner Fersen fest im Boden. Dadurch verschrauben sich deine Füße und erlangen Stabilität.
- Richte deine Knie so aus, dass die Mitte deiner Kniescheiben zu den Punkten zwischen ersten und zweiten Zehen zeigen. Eventuell musst du dafür deine Oberschenkel etwas nach innen oder außen rotieren. Strecke deine Knie, ohne sie nach hinten durchzudrücken und aktiviere deine Oberschenkelmuskulatur.
- Richte nun dein Becken auf. Wer zum Hohlkreuz tendiert, sollte sein Kreuzbein etwas Richtung Boden ziehen. Wer hingegen den Po einzieht, sollte die Gesäßmuskeln locker lassen und die Oberschenkel ein wenig nach innen rotieren. Beide Varianten sind damit verbunden, den Beckenboden zu aktivieren und den Bauchnabel etwas nach innen oben zu ziehen.
- Während du dein Becken aufrichtest, hebe dein Brustbein Richtung Decke. Wer es nicht weiß: Das ist der flache Knochen unterhalb der Halskuhle. Diese Bewegung steckt deine Brustwirbelsäule.
- Ziehe deine Wirbelsäule vom Steißbein bis zum Schädel in die Länge. Stelle dir vor, du würdest mehr Raum zwischen deinen Wirbeln schaffen. Halte dabei stets den Beckenboden aktiv und deinen Bauchnabel soft eingezogen. Das Nach-innen-Ziehen des Nabels geht mit der tiefen Bauchmuskulatur einher, so dass die Bauchdecke entspannt bleibt.
- Lass deine Arme locker hängen. Deine Handflächen zeigen zum Körper. Lass deine Schultern nach unten sinken und ziehe die Schulterblätter ohne große Anstrengung nach außen. Werde breit im oberen Rücken.
- Achte darauf, dass die Schultern, die Hüftgelenke und die Knie eine Linie bilden.
Übe tadasana am besten seitlich vor einem Spiegel.
Diese vielen Anweisung erwecken vielleicht den Eindruck, als handle es sich um isolierte Bewegungen. Mit ein wenig Übung wirst du jedoch merken, dass sich, angefangen bei den Füßen, Muskelketten in Gang setzen, die deine Wirbelsäule ganz automatisch aufrichten.
Verbinde jede Bewegung mit deiner Atmung.
Spüre, welche Bewegung sinnvoll von der Ein- und welche von der Ausatmung unterstützt wird.
Den Beckenboden etwa aktivierst du am Ende der Einatmung. Mit der Ausatmung ziehst du den Bauchnabel nach innen.
Das Anheben des Brustbeins wird dir leichter fallen, wenn du es mit dem Einatmen verbindest.
Die Erdung der Füße geht mit dem Ausatem einher.
Übe den aufrechten Stand, auch wenn er sich zu Beginn merkwürdig steif anfühlen mag, im Laufe des Tages immer wieder. Supermarktschlangen, Bushaltestellen, Arztpraxen, volle Busse und Bahnen – alles Gelegenheiten, um die Wirbelsäule und ihre umliegende Muskulatur zu kräftigen und zu strecken.
Nimm wahr, wie sich dein Körper nach und nach immer leichter aufrichtet. Wie sich im Laufe der Zeit verspannte Muskeln lösen und schwache festigen. Wie die Wirbelsäule kräftiger und zugleich flexibler wird. Einige Körperpartien müssen sich mehr anstrengen, andere weniger. Hie und da wird es Widerstände geben. Bemerke alles und beobachte die Veränderung.
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